Am Donnerstag, dem 13. Juni 1912, geschah etwas Außergewöhnliches: In Böhmen, einem Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, wurde im zweiten Wahlgang eine Frau in den böhmischen Landtag, das regionale Parlament, gewählt. Dies war das erste Mal in Mittel-, West-, Süd- und Osteuropa (in Skandinavien waren zuvor bereits Frauen gewählt worden). Die Gewinnerin hieß Božena Viková-Kunětická (1862-1934) und war der tschechischen Öffentlichkeit vor allem als etwas umstrittene Schriftstellerin und als Aktivistin für die politische Gleichstellung der Frauen bekannt. Sie gewann den Kommunalwahlkreis Mladá Boleslav (Jungbunzlau) - Nymburk (Nymburg), in welchem sie den Gegenkandidaten in Gestalt des Bürgermeisters von Mladá Boleslav besiegte. Der Erfolg von Viková-Kunětická war jedoch nicht Ausdruck einer besonderen demokratischen Einstellung der örtlichen Männer, die etwa 85 % der Wählerschaft ausmachten, sondern in erster Linie die Entscheidung der Nationalen Partei der Freidenker (der so genannten Jungen) und der Tschechischen Nationalen Sozialen Partei. Beide Parteien sahen in der Kandidatur von Frauen ein Zeichen für Fortschrittlichkeit, Demokratie und Gleichberechtigung. Gleichzeitig demonstrierte die Kandidatur den hohen Grad an Inklusivität des tschechischen Nationalismus, der auch stark auf die soziale und politische Integration der tschechischen Frauen in den nationalen Kampf mit den tschechischen Deutschen setzte. Obwohl Viková-Kunětická nicht in den böhmischen Landtag einzog, weil der Gouverneur, Fürst Franz Thun-Hohenstein, sich weigerte, die Gültigkeit ihrer Wahl zu bestätigen, wurde sie nicht nur in der tschechischen, sondern auch in der internationalen Frauenbewegung zu einer Berühmtheit. Im November 1918 wurde sie in das provisorische tschechoslowakische Parlament kooptiert und 1925 wurde sie kurzzeitig Mitglied des Senats der tschechoslowakischen Nationalversammlung.